07—Mangelwirtschaft
tolles Bild

......... St. Matthäus, Schrannenstraße 7
„Sammelt Brennesseln! Sie müssen uns die Baumwolle ersetzen!“
(Aufruf der „Bayerischen Nesselstelle München“, wohl 1918)
Deutschland ist auf einen Krieg dieses Ausmaßes nicht vorbereitetet. Niemand rechnet damit, dass er sich zu einer gigantischen Materialschlacht von vier Jahren Dauer entwickeln wird. Niemand kann sagen, wie die vorhandenen Arbeitskräfte zwischen Armee und Wirtschaft aufgeteilt werden müssen, damit beides funktioniert. Niemand hat einen Plan für den Fall, dass die Versorgung mit Rohstoffen oder Lebensmitteln ins Stocken gerät. Es gibt 1914 nicht einmal eine Behörde, die die Aufgabe hätte, sich um derart existenzielle Dinge zu kümmern.

Schon in den ersten Kriegswochen nimmt das Verhängnis seinen Lauf. Die Männer sind an der Front. Sie fehlen in der Landwirtschaft, in der Industrie, in den Werkstätten. Produktion und Ertrag gehen zurück. Importgüter aus Übersee wie Baumwolle, Öl, Schwefel oder Salpeter, der zu Pökelsalz, Dünger oder Sprengstoff verarbeitet wird, kommen nicht mehr an. Denn die britische Flotte droht, Frachtschiffe zu versenken, die Handelsware aus Übersee für Deutschland oder seine Verbündeten geladen haben. Verregnete Sommer und Ungeziefer führen zu massiven Ernteausfällen. Jetzt gerät auch die fern der Front gelegene Heimat in den Würgegriff des Krieges.
„Die Bevölkerung setzt der Ablieferung der Glocken tätlichen Widerstand entgegen.“
(Bericht des Königlichen Bezirksamts Parsberg, 1917)
St. Matthäus, Schrannenstraße 7

1916 heißt es auf einem Plakat: „Aluminium, Kupfer, Messing, Nickel, Zinn ist genug im Lande! Gebt es heraus – das Heer braucht es!“. Viele deutsche Hausfrauen „spenden“ daraufhin ihre Küchenpfannen. Aber das reicht nicht. Die Königliche Geschützgießerei und Geschoßfabrik in Ingolstadt hat einen immensen Bedarf an Kupfer und Zinn, um Kanonenrohre und Granatenrohlinge herzustellen. In Deutschland gibt es aber keine entsprechenden Rohstoffvorkommen. Kupfer und Zinn sind Importgüter. Deren Einfuhr verhindert die britische Seeblockade. Deshalb hat jetzt die letzte Stunde vieler Kirchenglocken geschlagen.

Der Münchner Erzbischof beschwert sich. Damit würde „dem Volk tief ins Herz gegriffen“. Sein Protest verhallt ungehört. Auch Gotteshäuser in Ingolstadt sind betroffen. Die Maria de Victoria, die Sebastianskirche und die Spitalkirche büßen je eine Glocke ein. Die Franziskaner müssen zwei Glocken abliefern. Am härtesten trifft es die evangelische Garnisonkirche St. Matthäus: Pfarrer Friedrich Ringler ist gezwungen, drei von vier Glocken herzugeben. Den Gotteshäusern soll wenigstens eine Glocke bleiben: die Totenglocke.
„Beschlagnahmt werden Tierhaare sowie Abfälle von Wollfellen, Haarfellen und Pelzen.“
(Ingolstädter Zeitung, 1917)
Fahrradreifen aus Spiralfeder, OG: Raum 18

Der Mangel zeigt sich überall. In Berlin fehlen Kohlen. In Nürnberg macht man Schuhe aus Teppichresten. In Ingolstadt mahnt ein Plakat: „Spare Seife! Denn sie besteht aus den jetzt so … knappen Fetten und Ölen.“ Waschen könne man sich auch mit „Scheuergras“ oder „Zigarrenasche“. Die „Bayerische Frauenhaarsammlung“ dient der Herstellung von Treibriemen, Filz- und Dichtungsringen. Die Bekleidungsindustrie experimentiert mit Ginster, Papiergarnen und Schilffasern. Am Ende besteht auch die Uniformjacke der Soldaten aus billigem Ersatzmaterial. Immerhin sind die Ellenbogen verstärkt.

Weil Deutschland aufgrund der britischen Seeblockade von seinen Naturkautschuk-Lieferanten abgeschnitten ist, wird Gummi knapp. Doch das Militär braucht dringend Fahrzeugreifen und Kabelisolierungen. Fußbälle und Gummistiefel verschwinden aus dem Handel. Die Behörden beschlagnahmen sogar die Schläuche privater Fahrräder. Als Ersatz dient eine „Bereifung“ mit Drahtspiralen. Auch den Besitzern von „Kraftwagen“ droht Ungemach. Sofern das Auto „eine Wasserkühlung und mindestens 4 Zylinder“ hat, gilt es als mögliches „Konfiskationsgut“. Es muss beim Stadtmagistrat Ingolstadt, Zimmer Nr. 14, gemeldet werden.