15—Kriegsgefangene
tolles Bild

......... Kreuztor, Oberer Graben 1
„Im Laufe des gestrigen und heutigen Tages kamen wieder größere Transporte Gefangener an.“
(Ingolstädter Tagblatt, 1914)
1918 befinden sich acht Millionen Soldaten in Kriegsgefangenschaft. In Deutschland sind allein 2,5 Millionen interniert. Es ist nicht das schlimmste Schicksal. Die Überlebenschancen von Kriegsgefangenen liegen deutlich höher als die von Frontkämpfern. Außerdem erfüllen die kriegführenden Parteien in aller Regel die humanitären Grundforderungen des Haager Abkommens. Eines der größten Lager in Süddeutschland breitet sich bei Puchheim im heutigen Landkreis Fürstenfeldbruck aus. Die Gefangenen sind in Hangars untergebracht, die zum ersten Flughafen Bayerns gehören.

Die Festung Ingolstadt wird ab 22. August 1914 offiziell als Kriegsgefangenenlager geführt. Am Vortag berichtet das Ingolstädter Tagblatt: „Gestern abends nach 7 Uhr trafen 15 gefangene französische Offiziere, darunter 3 Ärzte, am hiesigen Hauptbahnhof ein. Sie waren größtenteils nicht besonders properer Verfassung.“ Als Unterkünfte dienen die alten Befestigungswerke innerhalb und außerhalb der Stadt. Außerdem werden am heutigen Volksfestplatz Zelte und Baracken aufgestellt. Der spätere Papst Pius XII. kommt als Nuntius drei Mal nach Ingolstadt, um den Lagerinsassen Mut zuzusprechen.
„Die Besichtigung der Gefangenen trägt ohne Zweifel zur Erhebung des Nationalstolzes bei.“
(Ingolstädter Tagblatt, 1914)
Kreuztor, Oberer Graben 1

Die Kriegsgefangenen gehören bald zum Stadtbild. Wenn sie ihre Quartiere beziehen oder zu einem Arbeitseinsatz ausrücken, sind sie der demütigenden „Schaulust des Publikums“ ausgesetzt. Und manchmal kommen sie auch einer Marschkolonne bayerischer Soldaten in die Quere. Dann kann die Situation brenzlig werden. „Am Stein“, wo sich die Straße verengt, gibt es wiederholt Rempeleien. Die Vorgesetzten versuchen zu schlichten. Und der Festungskommandant macht darauf aufmerksam, dass Kriegsgefangene, die als „ausländische Verwundete“ in Ingolstadt ankommen, genauso wie deutsche Kriegsopfer „gleich am Bahnhof einer Stärkung bedürfen“. Das sei „keine übertriebene Fürsorge“, sondern ein Gebot der Menschlichkeit.
Zum gegenseitigen Respekt gehört, dass verstorbene Kriegsgefangene mit militärischen Ehren auf dem Westfriedhof zu Grabe getragen werden. Bei Offizieren schießt man sogar Salut.

Zeitweise drängen sich bis zu 9.000 Kriegsgefangene aus aller Herren Länder in der „Festung Ingolstadt“. Zwei von ihnen werden Geschichte schreiben: Charles de Gaulle amtiert von 1959 bis 1969 als Staatspräsident von Frankreich. Und Michail Tuchatschewski wird 1935 der jüngste Marschall der Sowjetunion.
„Ein gefangener Franzose wurde täglich morgens vom Lager gebracht und abends wieder abgeholt.“
(Georg Fischer, Erinnerungen an 1916)
Kunsthandwerk eines Gefangenen, OG: Raum 26

Laut bayerischem Kriegsministerium sind Kriegsgefangene „streng … abgeschlossen von jedem Verkehr mit der Zivilbevölkerung zu halten“. Unterbinden müsse man insbesondere den Kontakt zu Jugendlichen. Das lässt sich aber nicht umsetzen. Denn nur ein kleiner Teil der Gefangenen darf das Lager nicht verlassen und vertreibt sich die Zeit beispielsweise mit Kunsthandwerk. 90 % dagegen sind im Arbeitseinsatz. Man findet sie in der Landwirtschaft, in der Lebensmittelbranche, teilweise sogar – entgegen des Haager Abkommens – in der Rüstungsindustrie. Sie schürfen Kohle, überwachen Bahnstrecken oder bauen ein Acetonwerk für die Firma Wacker.

Auch in Ingolstadt sind die dienstverpflichteten Geister unverzichtbar. Der Vater von Georg Fischer, ein Schuster, kann seinen Betrieb nur deshalb fortführen, weil ihn ein französischer Kriegsgefangener unterstützt. Davon profitiert auch der Sohn: „Er ‚ochste‘ mit mir Grammatik, und der Erfolg blieb nicht aus: Selten, daß ich nicht eine Eins im Französischen nach Hause brachte.“ Der Franzose Maurice Pessenet findet auf diese Weise sogar seine große Liebe: Er ist als Bierfahrer zum Ingolstädter Sinzinger-Bräu abkommandiert – und heiratet die Schankkellnerin.